Argyris Sfountouris
Frühe Kindheit
Argyris Sfountouris wird 1940 in Distomo/GR geboren. Drei Schwestern sind vor ihm bereits zur Welt gekommen, nun freuen sich die Eltern über ihren ersten Sohn. Und mit ihnen freut sich der Grossvater, der doch noch einen Enkel bekommt, welcher traditionsgemäss auf seinen Namen getauft wird: Argyris
Im April 1941 marschiert die Deutsche Wehrmacht in Griechenland ein. Als Folge der Besetzung leidet die Bevöllkerung in den Städten schon bald an einer verheerenden Hungersnot. Im bäuerlichen Alltag hingegen, abseits der Städte, lässt sich unter der Besatzung schlecht und recht leben. Doch dann bricht am 10. Juni 1944 das nackte Grauen über das Dorf Distomo herein. Nachdem Soldaten einer deutschen SS-Spezialdivision die Zugänge zur Ortschaft abgeriegelt haben, beginnt, was die Deutschen damals eine ‘Sühnemassnahme’ nannten: Als Rache für den Tod einiger Kameraden in einem Gefecht mit griechischen Partisanen in der Nähe des Nachbardorfes erschiessen die deutschen Soldaten zuerst 12 Bauern und richten dann ein Massaker unter der Dorfbevölkerung an. Sie ermorden über 200 Einwohner, von Säuglingen über Kinder, schwangeren Frauen bis zu den Ältesten des Dorfs. Argyris verliert seine Eltern und weitere 30 Familienangehörige. Das Massaker, das nur vier Tage nach der Invasion der Alliierten in der Normandie (6. Juni 1944) stattfindet, gilt als eines der schlimmsten seiner Art. (Siehe Anhang A).
Im Waisenhaus
Der Knabe, noch keine vier Jahre alt, kommt in ein Waisenheim nach Piräus, wo weit über tausend Kriegswaisen untergebracht sind. Weil er bis auf die Knochen abgemagert ist, wird er in ein kleineres Waisenhaus am andern Ende von Athen gebracht. Hier ist eine bessere, individuellere Betreuung möglich, doch auch hier kann er, magenkrank, seine Nahrung kaum verdauen.
Auch die äussere Bedrohung ist keineswegs gebannt: während der Weltkrieg zu Ende geht, beginnt in Griechenland ein erbitterter, jahrelanger Bürgerkrieg zwischen den linken Partisanenverbänden und rechten, paramilitärischen Einheiten, die der Regierung nahe stehen und von den Briten und später den Amerikanern unterstützt werden – denn die Kommunisten dürfen auf keinen Fall zur stärksten Kraft im Land werden. Erste Vorboten des Kalten Krieges.
Doch dann, mittlerweile ist Argyris achteinhalb Jahre alt, taucht eine Delegation des Roten Kreuzes im Waisenhaus auf und wählt eine Reihe von Kindern aus, die auf eine Reise in ein fernes Land geschickt werden sollen: eine Reise in die Schweiz, ins Kinderdorf Pestalozzi nach Trogen. In ein Haus mit griechischen Hauseltern und griechischen Kriegswaisenkindern, in ein Dorf mit Kindern aus ganz Europa, in ein «unversehrtes» Land, eine neue Zukunft.
Fern der Heimat – neue Heimat
Für die Nachkriegsschweiz gilt das Kinderdorf Pestalozzi als Verkörperung eines schweizerischen Ideals schlechthin: Hier soll humanitäres Engagement in die Tat umgesetzt werden, hier soll geholfen werden, die Wunden des Krieges zu heilen, das Zusammenleben und die Versöhnung verschiedener Volksgruppen im Herzen Europas zu ermöglichen. Nach anfänglich erbittertem Widerstand gibt es neben den polnischen, ungarischen, griechischen, italienischen, englischen und französischen Häusern bald auch ein deutsches Haus, wobei es vorerst vom Schweizer Heimleiter Arthur Bill geleitet wird – deutsche Kinder sind geduldet, deutsche Erwachsene hingegen werden erst Jahre später im Dorf akzeptiert.
Langsam wieder zu Kräften kommend, fällt Argyris schon bald als hochintelligentes Kind auf, kann in der Folge das Gymnasium in Trogen besuchen und geht nach der Matur nach Zürich, wo er an der ETH Mathematik, Kernphysik und Astrophysik studiert.
Als junger Physiklehrer beginnt Argyris, Gedichte und Essays zu schreiben. Längst denkt, spricht und schreibt er in Deutsch – was ihm bei Besuchen in seinem Heimatdorf den stummen Vorwurf einträgt, ein Verräter zu sein … Und er beginnt damit, die Dichter und Schriftsteller seiner Heimat (Kazantzakis, Kavafis, Seferis, Ritsos und viele andere) in die deutsche Sprache zu übertragen. Seine Übersetzungen, Buchrezensionen und Nachrufe erscheinen mit grosser Regelmässigkeit in der NZZ, im «du», im Tages Anzeiger und in weiteren Zeitschriften.
Die Militärdiktatur
Dann, 1967, putschen die Obristen in Griechenland. Eine brutale Militärjunta in Griechenland etabliert sich. Über 100’000 Landsleute – politisch Andersdenkende, Intellektuelle, Schriftsteller, Musiker wie beispielsweise Mikis Theodorakis, Kommunisten – werden in den folgenden sieben Jahren verfolgt, auf einsame Gefängnisinseln verschifft, inhaftiert, gefoltert. Zusammen mit Zürcher Studenten und Politikern organisiert Argyris bereits einen Monat nach der Machtübernahme eine Kundgebung «Gegen die Diktatur in Griechenland», an welcher auch Max Frisch und August E. Hohler sprechen. Er gibt in Zürich die Kulturzeitschrift «Propyläa» heraus, in der er neue Dichtungen und Werke publiziert, die in Griechenland verboten sind.
Er sieht darin seine Möglichkeit, für die Wiederherstellung der Demokratie in der Heimat zu kämpfen; 1970 erhält er dafür eine Ehrengabe des Zürcher Regierungsrates. Nur dank der telefonischen Warnung eines Cousins sagt er eine geplante Reise nach Athen in letzter Minute ab, – auch er wäre sonst den Säuberungsaktionen der Militärs zum Opfer gefallen.
Denn in Griechenland steht er längst auf der schwarzen Liste. Sein Pass wird ihm deshalb auf dem griechischen Konsulat in Zürich nicht mehr erneuert. Und einen Schweizer Pass besitzt er nicht, denn für die Abgänger des Kinderdorfes ist vorgesehen, dass sie wieder in ihre Heimat zurückkehren. Fortan sind ihm alle Reisen untersagt; die Schweiz, sein Gastland, ist ihm zum Exil geworden. Und so stellt er einen Einbürgerungsantrag, dem erst 52 Monate später stattgegeben wird – auch hierzulande ist der junge Mann mittlerweile fichiert …
Der Kosmopolit
Mit 40 Jahren dann folgt ein radikaler Bruch: Argyris entscheidet sich, in der Entwicklungshilfe tätig zu werden, belegt an der ETH Zürich ein Nachdiplomstudium für Entwicklung und Zusammenarbeit (NADEL), und verbringt in der Folge mehrere Jahre in Somalia, Nepal und Indonesien, wo er in einem Projekt beim Aufbau von Fachhochschulen mitwirkt. Später wird er diese Zeit als die schönste seines Lebens bezeichnen: «als ob die Vergangenheit und all das Tragische, das ich erlebt hatte, dort irgendwie aufgehoben, jedenfalls nicht so abgelehnt, tabuisiert oder verdrängt war. Es gehörte zum Leben, ohne dass es wehtat.»
Wiedervereinigung – Wiedergutmachung
1990, zurück in Europa, ist unterdessen die Berliner Mauer gefallen. Mit der Wiedervereinigung Deutschlands ist eine neue, hochbrisante rechtliche Situation eingetreten. Denn erstmals, fast 50 Jahre nach Kriegsende, könnte es möglich werden, Entschädigung für das im Krieg erlittene Leid einzufordern (Siehe auch Anhang B – Juristischer Hintergrund zu den griechischen Reparationsforderungen).
«Tagung für den Frieden»
Anlässlich des 50. Jahrestages des Massakers von Distomo organisiert Argyris 1994 in Zusammenarbeit mit der Gemeinde Distomo im Europäischen Kulturzentrum in Delphi eine «Tagung für den Frieden». Unter dem Tagungsthema «Gedenken – Trauer – Hoffnung» sollen die Bemühungen in Deutschland, Griechenland und andernorts zur Wiedergutmachung, zur Überwindung des Hasses und zur Aussöhnung betrachtet werden. Insgesamt 19 Referentinnen und Referenten reisen an, Historiker, Journalisten, Hirnforscherinnen, Sozialpädagogen, Psychoanalytiker, Widerstandskämpfer, Jugendarbeiter, Rechtsgelehrte aus Athen, Zürich, Berlin und anderen Städten.
Forschungsergebnisse werden ausgetauscht, Voraussetzungen für das friedliche Zusammenleben und die Aussöhnung der Völker erörtert, psychologische Ursachen, die derart unmenschliche Handlungen möglich machen, debattiert. Nur eine Gruppe ist nicht vertreten: Trotz intensiver Bemühungen und Anfragen hat sich kein deutscher Politiker, auch nicht der deutsche Botschafter in Athen, bereit erklärt, an der Tagung teilzunehmen. Für Argyris eine herbe Enttäuschung.
Da er um die Brisanz des deutschen Wiedervereinigungsvertrages weiss, besucht er die deutsche Botschaft in Athen. Jetzt fragt er an, wie er seinen Anspruch auf Entschädigung von Kriegsfolgeschäden stellen kann. Als Antwort erhält er im Januar 1995 einen Brief der Botschaft, in dem es wörtlich heisst, das Massaker sei als eine «Massnahme im Rahmen der Kriegsführung» zu werten, und somit bestehe kein Anspruch auf Entschädigung. Dass die Tragweite des Massakers 50 Jahre später immer noch nicht in vollem Ausmasse anerkannt, sondern im Gegenteil heruntergespielt wird, verletzt ihn tief.
Die Klage
Kurz entschlossen reicht Argyris zusammen mit seinen drei Schwestern in Deutschland Klage ein. Parallel wird auch in Griechenland selbst eine Sammelklage von 290 Betroffenen, Angehörigen und Nachfahren aus Distomo eingereicht.
Für Deutschland ist die Thematik äussert «delikat». ist Sollte Argyris’ Klage oder die Sammelklage aus Distomo am Ende doch Erfolg haben, hätte dies einen entschädigungspolitischen Dammbruch zur Folge mit der Konsequenz, dass sich die Bundesrepublik immensen internationalen Forderungen stellen müsste, die sie bisher über Jahrzehnte hinweg abwehren und aufschieben konnte.
In den folgenden Jahren weisen sowohl das Landesgericht Bonn, das Oberlandesgericht Köln und der Bundesgerichtshof in Karlsruhe die Klage ab, paradoxerweise mit teils sich widersprechenden Begründungen: Individuen könnten gar keine Ansprüche stellen, jedenfalls keine, die sie selber gegen den deutschen Staat richten können. – Doch, Individuen könnten zwar an und für sich Ansprüche im Falle von Kriegsverbrechen geltend machen, aber im vorliegenden Fall gelte das Gesetz von 1944, und da wiederum sei eine solche Klage nicht vorgesehen … Eine Verfassungsbeschwerde geht 2003 beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein. Im März 2006 der Entscheid: er ist negativ. Im Juni 2006 wird, als allerletztes juristisches Mittel, eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg eingereicht (siehe Anhang C). Die Antwort aus Strassburg steht noch aus.
Wie weiter?
Argyris erlebt einen ermüdenden Wirbel um die Klagen, um Gerichtstermine, Aktivitäten, Referate an Veranstaltungen und Gegenveranstaltungen. Ein frustrierendes Gefühl, sich ein weiteres Mal als ohnmächtiges Opfer wiederzufinden. Zweifel, ob sich das alles gelohnt hat. Kann denn der Verlust der Eltern, der Raub der Kindheit, je mit Geld aufgehoben werden? – Die Leere kehrt zurück. Wie weiter?
Doch in den Momenten des Zweifelns kommt beispielsweise auch die Erinnerung an Willy Brandts «Kniefall» in Warschau hoch. Was für eine ungewohnte Handlung. Diese körperliche Haltung, diese sprachlose Geste des deutschen Kanzlers, ein stummes Ritual, das den ganzen herkömmlichen politischen Kodex unterlief. Dann die Worte: «Ich schäme mich», welche das persönliche, das ganz private Gefühl zu einer politischen Manifestation werden liess, und weltweit eine ungeheure Wirkung zeigte.
Ein Ziel allerdings hat Argyris mehr als erreicht: Das Massaker von Distomo hat eine Öffentlichkeit und eine späte Resonanz erhalten, die er nie für möglich gehalten hätte. Sogar der Bundesgerichtshof in Karlsruhe hält fest, dass das Massaker von Distomo eines der abscheulichsten Kriegsverbrechen gewesen sei. Und über die Jahre sind unzählige private Freundschaften entstanden, wie die Verbindung zum Arbeitskreis Distomo aus Hamburg – in deren Gruppe Argyris auch seinen deutschen Anwalt Martin Klingner gefunden hat, der ihn vor Gericht vertritt.
Argyris widmet sich seinen eigenen Plänen. Er will ein eigenes Theaterstück überarbeiten: «Die Adoption der Menschlichkeit». Er arbeitet an einem Entwurf zu einer Aktualisierung der Genfer Konvention. Unter dem Begriff «Initiative Ehre des Soldaten» soll in der Konvention verankert werden, dass weltweite Richtlinien zur Ausbildung der Soldaten geschaffen werden. Es soll zur soldatischen Pflicht gehören, sich Befehlen wider die Menschlichkeit zu verweigern und sich Aufforderungen zu verbrecherischen Taten zu widersetzen.
Argyris spielt mit dem Gedanken, sein Geburtshaus in Distomo zu verkaufen. Ob überhaupt jemand das Haus kaufen will, in einem Dorf, das sich nie wirklich vom Massaker erholt hat, wo das Leben vor sich hindümpelt, die Landflucht ungebrochen anhält, ist allerdings unsicher. Und dennoch: damit verbunden ist auch die hie und da sich einstellende Sehnsucht, einmal die Vergangenheit abzustreifen, ungebunden, unbelastet vom Ballast der Erinnerung aufzubrechen in die Freiheit …
Vorerst pendelt Argyris weiter zwischen Zürich, Distomo und Athen hin und her.
Anhang
Anhang A
Die Ereignisse des 10. Juni 1944 – Texttafel im Museum von Distomo
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Anhang B
Juristischer Hintergrund zu den griechischen Reparationsforderungen
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Anhang C
Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg
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Anhang D
Pressemitteilung 04.06.2008, Oberster Gerichtshof in Italien entscheidet: Deutschland muss NS-Opfern Entschädigung zahlen!
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